Buchtipp Erwachsene Oktober 2018

Hannes Köhler: Ein mögliches Leben

Köhler, Hannes:
Ein mögliches Leben : Roman / Hannes Köhler. - Berlin : Ullstein, 2017. - 351 S. ; 22 cm
ISBN 978-3-550-08185-9 fest geb. : EUR 22.00

Martin begleitet seinen Großvater Franz auf einer Reise in die USA, wo sie die Orte besuchen, an denen Franz ab 1944 seine Kriegsgefangenschaft verbrachte. In tiefgehenden Gesprächen kommen die beiden einander immer näher.

Schlagworte: Grossvater ; Enkel ; Reise ; USA ; Kriegsgefangenschaft ; Erinnerung ; Belletristische Darstellung

(© Ullstein Verl.)

Seinen ersten Blick vom Schiff auf die Skyline New Yorks wird der noch nicht einmal 20jährige deutsche Kriegsgefangene Franz Schneider, die zentrale Figur in Hannes Köhlers Roman „Ein mögliches Leben", nie vergessen. Und zeitlebens wird er einem möglichen Leben, das er nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten von Amerika hätte führen können, nachtrauern.

Franz, ein junger Bergmann aus Essen, ist einer von über 370.000 deutschen Kriegsgefangenen, die während des Zweiten Weltkriegs in über 500 Lagern in den USA interniert waren. Franz gerät (zu seinem Glück und zu seiner Erleichterung) gleich bei seinem ersten Fronteinsatz 1944 während der Invasion der Alliierten in der Normandie mit seinem ganzen Zug kampflos in amerikanische Gefangenschaft und landet nach der Überfahrt über den Atlantik in einem Kriegsgefangenenlager in Texas.

Auch wenn gemeine Soldaten wie Franz zu harter Arbeit u. a. in der Landwirtschaft herangezogen werden, halten sich die Amerikaner strikt an das Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen. Die Prisoners of War werden nicht misshandelt, sondern menschenwürdig untergebracht, gut verpflegt und können sich in den Lagern sogar kulturell betätigen und weiterbilden. Trotzdem tobt in den Lagern ein von den Amerikanern unbemerkter oder vielleicht auch ignorierter Krieg zwischen zwei Flügeln, die sich gegenseitig als „Nazipack" und „Verräterschweine" beschimpfen und beide den Ton unter den Gefangenen angeben möchten: auf der einen Seite die, die noch immer an den Endsieg glauben und davon überzeugt sind, dass der Führer sie heimholen wird, auf der anderen Seite diejenigen, die den Nationalsozialismus schon immer abgelehnt oder sich im Laufe des Kriegs oder der Gefangenschaft von ihm distanziert haben und auf eine baldige Niederlage Deutschlands und ein Ende des Naziregimes hoffen. Beide Seiten schrecken auch vor Körperverletzung und sogar Mord nicht zurück.

Ein Wortführer der zweiten Gruppe ist Paul, den Franz auf dem Transport nach Amerika kennen gelernt hat. Paul ist als kleines Kind mit seinen Eltern aus Deutschland in die Staaten ausgewandert, in den späten 30er Jahren den Rattenfängern der Naziorganisation „Amerikadeutscher Bund" auf den Leim gegangen, nach Deutschland zurückgekehrt und in die Wehrmacht eingetreten. Seine Kriegserlebnisse, vor allem die in Russland, haben seinen Glauben an den Nationalsozialismus aber gründlich erschüttert. Paul, der von den Amerikanern als Dolmetscher eingesetzt wird, wird Franz‘ Mentor. Er animiert ihn zur Teilnahme an einem Englischkurs und verschafft ihm schließlich einen Posten als Übersetzer und Fahrer eines Offiziers der Lagerleitung. Kurz darauf wird Paul von den unverbesserlichen Nazis als Verräter totgeschlagen. Franz, der ebenfalls bedroht ist, wird in eines der inzwischen von den Amerikanern eingerichteten Anti-Nazi-Lager verlegt und dort für einen Einsatz bei der „Reeducation" der Deutschen nach dem Krieg vorbereitet.

Franz wird nach seiner Rückkehr in Deutschland nicht mehr so richtig heimisch. Als Mitglied einer Spruchkammer muss er erfahren, wie die Entnazifizierung im Sande verläuft, und er muss mit ansehen, wie alte Parteigenossen wieder in einflussreiche Positionen in Politik, Justiz und Verwaltung einziehen. Auch seine Ehe wird alles andere als glücklich, denn einer möglichen Auswanderung in die USA widersetzt sich seine Frau. Vor die Entscheidung zwischen Auswanderung und Familie gestellt, entscheidet er sich gegen seinen Traum und für die Familie und wird zeitlebens einem anderen Leben, das möglich gewesen wäre, nachtrauern.

Hannes Köhler erzählt Franz‘ Lebensgeschichte eingebettet in zwei in der Gegenwart spielenden Rahmenhandlungen: Als fast 90-Jähriger reist Franz mit seinem Enkel Martin, dessen Bild von seinem Großvater von den negativen Schilderungen seiner Mutter Barbara geprägt ist, nach 70 Jahren erstmals wieder in die Vereinigten Staaten, um noch einmal die Orte seiner Gefangenschaft und das Land seiner Träume zu besuchen. Von der Reise zurückgekehrt übergibt Franz seiner Tochter Barbara, die ein sehr distanziertes Verhältnis zu ihrem Vater hat, eine Schachtel mit Briefen, die ihm Pauls Schwester Wilma, der Franz ein einziges Mal begegnet ist, geschrieben hat. Mit ihr hielt Franz nach dem Krieg noch jahrelang Kontakt und ihre Familie wäre es auch gewesen, die bei einer Auswanderung für Franz, seine Frau und seine damals noch kleine Tochter gebürgt hätte.

Hannes Köhler hat mit „Ein mögliches Leben" nicht nur ein heute fast vergessenes zeitgeschichtliches Thema aufgegriffen, mit dem sich zuletzt Hans Werner Richter in seinem Roman „Die Geschlagenen" von 1949 beschäftigt hatte, sondern sich auch mit den jahrzehntelangen Auswirkungen von Krieg und Gefangenschaft nicht nur auf die Betroffenen selbst, sondern noch auf ihre Kinder und Enkel auseinandergesetzt. „Ein mögliches Leben" ist also zugleich ein Familienroman, der beschreibt, wie sehr die Vergangenheit eine Familie und das Verhältnis der Generationen prägen kann. Und nicht zuletzt ist das Buch auch ein sehr philosophisches, durch das sich wie ein roter Faden die Frage zieht, die sich jede/r sicher mehr als nur einmal im Leben stellt: „Was wäre, wenn ich mich damals nicht so, sondern so entschieden hätte?"

„Ein mögliches Leben" ist nicht nur gut lesbar, auch sein geschichtlicher Hintergrund ist gut recherchiert. Zwei Monate lang war Hannes Köhler, der auch Neuere und Neueste Geschichte studiert hat, in den USA unterwegs, hat ehemalige Lager und Gedenkstätten besucht, letzte Zeitzeugen befragt und in Archiven geforscht. Vor allem die Schilderung des Lageralltags wirkt sehr authentisch. Eine Empfehlung für alle, die gerne zeitgeschichtliche und/oder Familienromane lesen.