Buchtipp für Erwachsene 12/2021: Eva Sichelschmidt: Bis wieder einer weint

2. Auflage, Originalausgabe. - Hamburg : Rowohlt Hundert Augen, 2020. - 475 Seiten ; 21 cm
ISBN 978-3-498-06293-4 fest geb. : EUR 22.00

(© Rowohlt Hundert Augen)

Eva Sichelschmidts Roman „Bis wieder einer weint“ ist die Geschichte vom Aufstieg und Fall einer Familie zur Zeit des bundesdeutschen Wirtschaftswunders, in der Lebenslügen und Verdrängung zugunsten von materiellem Wohlstand in Kauf genommen werden, die Protagonisten letztendlich jedoch scheitern.

Im Mittelpunkt des ersten Teils der Geschichte steht Inga, die 1941 als Tochter einer Arztfamilie im Ruhrgebiet geboren wird. Sie ist 17 Jahre alt, als sie beim Reiten Wilhelm Rautenberg begegnet, dem begehrtesten Junggesellen der Gegend. Der ist 12 Jahre älter als sie und führt gemeinsam mit seinem Bruder Karl die geerbte Maschinenfabrik. Inga und Wilhelm scheinen wie füreinander gemacht, denn „sie hat den Stil und er das Geld“.

Bei der Hochzeit vier Jahre später wähnt sich Inga am Ziel ihrer Wünsche. Doch es zeigt sich, dass die beiden nicht so recht zueinander finden. Zu unterschiedlich sind ihre Lebenserfahrungen. Die naive Inga, als Nachkriegskind in einer Arztfamilie behütet aufgewachsen, wünscht sich einfach ein sorgloses Leben, wie es ihr in den Zeitschriften und Werbesendungen der jungen Bundesrepublik vorgegaukelt wird. Und Wilhelm ermöglicht ihr dieses Leben, das sie jedoch bald langweilt. Daran ändert auch die Geburt der ersten Tochter Asta wenig.

Wilhelms Leben als erfolgreicher Geschäftsmann und preisgekrönter Dressurreiter ist ebenfalls nur äußerlich gelungen. In Wirklichkeit kämpft er mit seinen Dämonen: Kurz vor Kriegsende geriet er als junger Flakhelfer in britische Gefangenschaft wo er fast verhungerte. Ein Trauma, von dem er sich nie erholte. Aber ein selbstbestimmtes Leben scheitert v.a. daran, dass Wilhelm seine Homosexualität zugunsten seines Ansehens und Wohlstandes versteckt.

Inga ist viel allein und obwohl sie von Wilhelms Doppelleben ahnt, wünscht sie sich ein zweites Kind, zu dem sie eine engere Bindung aufbauen möchte als zur ersten Tochter, die eher zum Vater tendiert. Doch kurz nach der Geburt von Suse erkrankt Inga schwer und stirbt mit 30 Jahren.

Parallel zu Ingas und Wilhelms Geschichte gibt es einen zweiten Erzählstrang, geschildert aus der Sicht der zweiten Tochter. Man erfährt, dass Suse nach dem Tod der Mutter bei deren Eltern aufwächst. Die Großeltern sind streng aber liebevoll und Suse ist glücklich bei ihnen. Allerdings gilt diese Regelung nur bis zur Einschulung. Dann muss sie zurück zum Vater. Doch der ist mit sich selbst beschäftigt und kümmert sich kaum um Suse und die ältere Schwester. Sein psychischer Zustand verschlechtert sich und die Kinder bleiben in der Obhut wechselnder Kinderfrauen.

Ohne den Rückhalt einer Familie, die ihre Nöte erkennt, tut sich Suse schwer im Leben. Ihre schulischen Leistungen bleiben weit hinter den Erwartungen zurück, sie ist unbeliebt, wird gehänselt und schließlich zur Außenseiterin. Es wird viele Jahre dauern, bis sie ihren eigenen Weg findet.

 

Die Autorin Eva Sichelschmidt wurde 1970 geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. 1989 zog sie nach Berlin, wo sie zunächst als Kostümbildnerin für Film und Oper arbeitete, bevor sie ein Maßatelier für Braut- und Abendmoden  und später das Geschäft „Whisky & Cigars“ eröffnete.

2017 erschien ihr erster Roman „Die Ruhe weg“. Ihr zweiter Roman „Bis einer wieder weint“ schaffte es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2020.

Sabine Fürst

 

 

 

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