Buchtipp für Erwachsene 102021: Titus Simon: Wir Gassenkinder

eine schwäbische Kindheit in den 60er-Jahren / Titus Simon. - 1. Auflage. - Tübingen : Silberburg-Verlag, 2020. - 271 Seiten ; 19 cm
ISBN 978-3-8425-2290-9 kt. : EUR 14.99

(© Silberburg Verl.)

Über das Buch:

Mit der „Seelbach-Trilogie“ („Hundsgeschrei“, „Kirmeskind“ und „Kleinstadt-Hippies“) sind von dem in Oberrot lebenden Autor Titus Simon zwischen 2013 und 2017 drei vielbeachtete kritische Heimatromane erschienen. Im vergangenen Jahr hat der Silberburg-Verlag unter dem Titel „Wir Gassenkinder“ seine Kindheitserinnerungen herausgebracht.

Der bescheidene Untertitel „eine schwäbische Kindheit in den 60er-Jahren“ täuscht: Das Buch greift weit über den im Untertitel genannten Zeitraum hinaus und erzählt neben seinen Kindheitserinnerungen zugleich eine Familiengeschichte, in der sich die großen politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts spiegeln.

„Wir Gassenkinder“ ist ein sehr intimes Buch. Viele Familienangehörige und Einwohner Murrhardts (dort ist Titus Simon aufgewachsen) kommen mit ihren Klarnamen darin vor, nur wenige Namen hat Titus Simon pseudonymisiert. Und es kommen Dinge zur Sprache, die in den meisten Familien normalerweise in der Familie bleiben: die unglückliche Ehe der Eltern; das Versagen von Vater und Mutter als Eltern; die erschütternde Geschichte seiner von der Mutter zurückgewiesenen Halbschwester aus einer früheren Beziehung, die ihr Leben irgendwann einmal nicht mehr ertrug; der Onkel zweiten Grades aus dem Schweizer Zweig der Familie, der im Zweiten Weltkrieg an Kriegsverbrechen auf dem Balkan beteiligt war.

Vieles an „Wir Gassenkinder“ wird jemandem, der die 60er- (oder wie der Rezensent die 70er-)Jahre bewusst erlebt hat, vertraut vorkommen: die ersten „Mischehen“ aus Einheimischen und Flüchtlingen; die Alteingesessenen im Ort und die Heimatvertriebenen in den ersten Neubausiedlungen außerhalb des alten Ortskerns; der kriegsversehrte Verwandte oder Nachbar; der im Krieg vermisste Onkel, auf dessen Rückkehr die Großmutter bis zu ihrem Tod vergeblich hoffte; das Schweigen der Eltern und Großeltern über die traumatischen Erlebnisse durch Krieg und Vertreibung bis ins hohe Alter. Vielleicht erklärt gerade dieser Wiedererkennungseffekt bei der Leserschaft den Erfolg des Buchs, das demnächst die dritte Auflage erleben soll.

Eine lohnende, an keiner Stelle in falscher Nostalgie schwelgende Lektüre nicht nur für die in den 50er-Jahren Geborenen, sondern auch für alle Nachgeborenen, die wissen wollen, wie es war, in den 60er-Jahren Kind zu sein.

Michael Steffel

Zum Autor

Prof. Dr. Titus Simon, geboren 1954 in Backnang, studierte – überwiegend berufsbegleitend – Rechtswissenschaften, Sozialarbeit, Pädagogik und Journalistik. Zwischen 1975 und 1992 arbeitete er mit jugendlichen Gewalttätern, in der Obdach- und Wohnungslosenhilfe und beim NABU Baden-Württemberg. Zwischen 1992 und 1996 hatte er die Professur „Jugend und Gewalt“ an der FH Wiesbaden inne und wurde 1996 auf die Professor für Jugendarbeit und Jugendhilfeplanung an der Hochschule Magdeburg-Stendal berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrte.

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