Buchtipp für Erwachsene Dezember 2019

Èric Vuillard: 14. Juli

Vuillard, Eric: 14. Juli/ Éric Vuillard. Übers.: Nicola Denis. - 1. Aufl. - Berlin : Matthes & Seitz, 2019. - 131 S.
EST: 14 juillet. - Aus dem Franz.
ISBN 978-3-95757-519-7 fest geb. : EUR 18.00

(© Matthes & Seitz)

Der deutsche Verlag des französischen Schriftstellers und Regisseurs Éric Vuillard behauptet auf seiner Webseite großspurig, sein Autor erzähle in seinen Büchern große Momente der Geschichte neu und habe damit ein eigenes Genre begründet. Das ist natürlich ziemlicher Unsinn, denn genau das tun Novellisten seit der Erfindung dieser Literaturgattung. Und mit seinen weltberühmten und in mehr als 30 Sprachen übersetzten historischen Miniaturen der Sammlung „Sternstunden der Menschheit" hat Stefan Zweig schon zwischen 1912 und 1940 meisterhafte Beispiele von aufs Höchste verknappten Darstellungen von Weltereignissen geschrieben.

Die Marktschreierei von Vuillards deutschem Verlag tut seiner schriftstellerischen Leistung in seinem Buch „14. Juli" über die Frühphase der Französischen Revolution allerdings keinen Abbruch: Wenn man einen mit Fug und Recht als Erben Zweigs bezeichnen kann, dann Vuillard, zumal er sich in „14. Juli" nicht zum ersten Mal mit einer historisch bedeutsamen Begebenheit und ihren Folgen beschäftigt. In früheren Werken hat er sich unter anderem schon mit der Eroberung des Inkareichs durch Francisco Pizarro (Conquistadors (2009)), der Berliner Kongo-Konferenz 1884/85 (Congo (2012); dt. Kongo (2015)) oder dem Geheimtreffen Adolf Hitlers mit deutschen Großindustriellen am 20. Februar 1933 (L’ordre du jour (2017); dt. Die Tagesordnung (2018)) literarisch auseinandergesetzt – um nur einige Titel zu nennen.

In „14. Juli" schildert Éric Vuillard den Beginn der Französischen Revolution von den ersten Arbeiteraufständen nach Lohnkürzungen im April bis zur Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789. Dabei wählt Vuillard den Blick von unten: Im Fokus stehen völlig unbekannte, aber historisch verbürgte Personen, die in ihrer Not, Wut und Verzweiflung die Revolution in Gang bringen. Von den bis heute bekannten späteren Führern der Revolution lässt er als Einzigen nur Camille Desmoulins persönlich auftreten. Vuillard nimmt den Leser mitten mit hinein in das Getümmel der Masse, deren Erregung sich mehr und mehr steigert. Bei der Lektüre glaubt man förmlich die Sommerhitze zu fühlen, den allgegenwärtigen Gestank zu riechen, das Knirschen des Staubs zwischen den Zähnen zu spüren. In jeder Szene rückt er eine andere Person in den Mittelpunkt des Geschehens, gibt ihr ein Gesicht und ihrem von der Geschichtsschreibung übersehenen Beitrag zur Revolution die gebührende Anerkennung, bevor er sie wieder in der Masse verschwinden lässt und sie Platz machen muss für eine andere, die ebenso schnell wieder von der Bühne verschwindet. So entreißt Vuillard die Vergessenen der Revolution dem Dunkel der Geschichte und setzt ihnen ein spätes Denkmal. Wie ein impressionistischer oder pointilistischer Maler seine Gemälde aus vielen Farbtupfern zusammensetzt, so setzt Vuillard seine Erzählung aus vielen kurzen Szenen zusammen, die als Ganzes ein eindrucksvolles Bild des Beginns der Französischen Revolution ergeben. Völlig zutreffend hat ein Rezensent Vuillards Erzähltechnik einmal als „literarischen Pointillismus" bezeichnet und die Madrider Tageszeitung „El País" spricht im Zusammenhang mit „14. Juli" von einer „impressionistischen Annäherung" an die Ereignisse.

Wie „Die Tagesordnung" ist „14. Juli" eine außergewöhnliche und unkonventionelle literarische Darstellung eines historischen Ereignisses, das ich geschichtlich interessierten Leserinnen und Lesern wärmstens empfehle.

Michael Steffel