Buchtipp für Erwachsene Juli 2020

Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt

1. Auflage. - Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2019. - 429 Seiten ; 21 cm
ISBN 978-3-462-05043-1 fest geb. : EUR 22.00

(© Kiepenheuer & Witsch)

Die beiden Mädchen Esther und Sulamith aus dem Rheinland sind von klein auf beste Freundinnen. Sie wachsen in der „Wahrheit“ auf, wie sich die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas selbst nennt. Persönliche Kontakte außerhalb der Gemeinschaft, also zur „Welt“  sind unerwünscht, es sei denn mit der Absicht zu missionieren.

Der Roman beginnt kurz nach der Wende, als Esthers Eltern als „Sonderpioniere“ vom Rheinland in den Geburtsort des Vaters nach Ostdeutschland ziehen, um dort ihren Glauben unter den zum Teil verunsicherten und frustrierten Menschen zu verbreiten.

In zahlreichen Rückblenden und Andeutungen erfährt der Leser nach und nach, was unmittelbar vor Esthers Umzug vorgefallen ist und man ahnt, dass es noch einen anderen Grund gab, die Heimat zu verlassen. Während Sulamith sich in der Kindheit noch mit den strengen Regeln arrangiert hat, beginnt sie als Jugendliche die Lebensform der Zeugen Jehovas zu hinterfragen, begehrt auf und verlässt schließlich endgültig die von ihr als System aus Kontrolle, Demütigung und Bestrafung empfundene Gemeinschaft.

Esther ist zurückhaltender, ist keine Rebellin. Anfangs reagiert sie empört, als Sulamith versucht, der Enge zu entfliehen und sich plötzlich heimlich aus dem Haus schleicht, um auf Partys zu gehen oder sich mit ihrem Freund zu treffen. Doch auch ihre Sicht auf die Welt verändert sich und die Sehnsucht nach einem freieren Leben wächst. Doch fremd in der neuen Stadt und ohne ihre Freundin an der Seite, fühlt sie sich nirgendwo wirklich zugehörig und fürchtet sie sich vor noch größerer Einsamkeit, wenn sie den Zeugen Jehovas den Rücken kehrt. Die Ambivalenz ihrer Gefühle zeigt sich, als sie an ihrem neuen Wohnort die Bekanntschaft mit Cola macht, einem Mädchen, das ausgegrenzt und vollkommen vereinsamt unter prekären Verhältnissen lebt. Sie führt sie bei den Zeugen Jehovas ein, obwohl sie sich selbst schon von ihnen entfernt. Aber für Cola öffnet sich eine neue Welt, denn sie erfährt zum ersten Mal in ihrem Leben Zuwendung.

Kein Teil der Welt ist eine berührende Geschichte über das Heranwachsen, das Finden des eigenen Weges und über die Kraft der Freundschaft.

Zu der Autorin

Stefanie de Velasco wurde 1978 als Tochter eines Deutschen und einer Spanierin geboren. Sie wuchs bei ihrer Mutter, einer gläubigen Zeugin Jehovas auf. In ihrem Roman „Kein Teil der Welt“ verarbeitet sie ihre Zeit in dieser Glaubensgemeinschaft, die sie als von permanenter Angst und Anspannung geprägt empfand. Mit 15 Jahren trat sie aus der Organisation aus. Später  studierte sie Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft in Bonn, Berlin und Warschau. Ihr Debutroman „Tigermilch“ (2013) über zwei Teenager-Mädchen in Berlin wurde für den Deutschen Jugendbuchpreis nominiert und 2017 verfilmt. „Kein Teil der Welt“ ist ihr zweiter Roman.


 

Sabine Fürst

Stadtbibliothek im Torhaus