Berlin : Kanon Verlag, 2023. - 217 Seiten
ISBN 978-3-9856806-3-4 fest geb. : 23,00 €
Der Förderpreis des Schubart-Literaturpreises ging dieses Jahr an Grit Krüger für ihr Buch „Tunnel“. „Tunnel“ ist das Romandebut der 1989 in Erfurt geborenen Autorin und 2023 im Kanon-Verlag, einem Berliner Independent-Verlag, erschienen.
Die Jury begründete seine Preiswürdigkeit damit, dass Krüger in dieser Prekariatsgeschichte alle mit diesem Genre verknüpften Erwartungshaltungen auf so eigenwillige wie fantastische Weise unterlaufe.
Also: kein Sozialkitsch, keine tränendrüsige Elendsgeschichte, sondern eine witzig-lakonische Auseinandersetzung mit dem Thema Armut in unserer Gesellschaft gepaart mit surrealen Elementen und einem unerwarteten Ausgang.
Der Roman erzählt aus der Perspektive von vier Figuren von Menschen am Rand der Gesellschaft, die sich trotz ihrer prekären Lebenssituation nicht aufgeben. Dabei wird in der Geschichte allen vier mehr oder weniger derselbe Raum gegeben, unabhängig von Alter und Geschlecht.
Da ist erstens die alleinerziehende Mutter Mascha Heerdmann, der das Amt wegen einer Arbeitsaufnahme Druck macht.
Mücke, die gleich im ersten Kapitel Maschas Tagtraum von einem anderen Leben bei einem Vollbad im Kerzenschein zum Platzen bringt, ist ihre siebenjährige Tochter, heißt in Wirklichkeit Katharina und wird auch Tinka gerufen.
Die dritte Person ist Maschas Liebhaber, genannt „Der Tröster“, und heißt mit bürgerlichem Namen Enders. Er war einmal Seemann, saß dann im Knast und haust im Hinterzimmer einer Kneipe.
Es könnte alles gut sein, wenn Mascha nicht ständig das Amt im Nacken sitzen würde, die Heizung in ihrer Wohnung nicht mitten im Winter kaputt wäre, ohne dass sich der Vermieter darum kümmert, und Enders nicht sein Zimmer räumen müsste, weil die Wirtin die von ihr nur gepachtete Kneipe schließt.
Die vierte Person, aus deren Perspektive erzählt wird, ist der schon etwas demente, irgendwo aus Osteuropa stammende ehemalige Bergmann Tomsonov. Er kommt ins Spiel, als Mascha notgedrungen eine ihr vom Amt vermittelte befristete Stelle als Pflegehelferin in einer Seniorenresidenz am Stadtrand antritt. Tinka muss mit, Enders bringt sie heimlich in einem leerstehenden Zimmer in einem Seitenflügel der Einrichtung unter. Tomsonov ist einer der Heimbewohner.
Eines Tages hört Tomsonov aus dem Keller Geräusche und beschließt, diesen nachzugehen. Kurzerhand bestellt er im Internet eine Hilti und beginnt damit in der Silvesternacht, die Wand aufzubohren, hinter der er die Geräusche vermutet. Dabei wird er von Mascha ertappt, die ihm fortan beim Bohren und Graben hilft. Schließlich entdecken sie hinter der Wand eine alte, verrostete Tunnelbohrmaschine und dahinter einen halb verstürzten Tunnel.
„Tunnel“ ist ein Roman über Menschen am Rand der Gesellschaft: alleinerziehende Mütter und ihre Kinder, auf Betreuung im Heim angewiesene Menschen, Obdachlose, Alkoholiker, mehr aber noch ein Buch über Solidarität in einem prekären Umfeld. Deshalb ist „Tunnel“ kein trauriges, sondern ein sehr Mut machendes Buch. Es ist zudem sprachlich sehr originell. Es erzählt eine irrwitzige, immer wieder ins Surreale abdriftende Geschichte, bei der Wirklichkeit und Traumwelt verschwimmen. Einziges Manko aus meiner Sicht: Mascha verschwindet am Ende im Tunnel und bleibt verschwunden, während Tinka und Enders zurückbleiben.
Der Schubart-Förderpreis ist nicht der erste Preis, den die in Ettlingen lebende Autorin für „Tunnel“ erhielt: Bereits 2023 gab es dafür den Kranichsteiner Literaturförderpreis und den Anna-Haag-Preis (bis 2022 „Thaddäus-Troll-Preis“).
Michael Steffel