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Buchtipp für Erwachsene 09/2025: Charles Lewinsky - Täuschend echt

Roman. - Zürich: Diogenes, 2024. - 341 S.
ISBN 978-3-257-07306-5 fest gebunden : 26,00 €

(© Diogenes Verl.)

Ein Werbetexter verliert seinen Job und steht erst einmal vor dem Nichts. Denn er kann auch nichts – außer Werbetexte für Frühstücksmüslis zu verfassen. Die schreibt er für genau einen Kunden der Agentur, bei er beschäftigt ist bzw. war. Als der Kunde zur Konkurrenz wechselt, ist der Werbetexter und Ich-Erzähler seinen Job los. Richtig glücklich war er mit dieser Arbeit allerdings nie. Sie war immer ein Notbehelf zum Broterwerb, aber der Arbeitsmarkt für Literaturwissenschaftler ist nun einmal überschaubar.

Der Jobverlust ist nicht der erste Verlust, der ihn trifft: Zuvor schon hatte ihn seine Freundin, die in Wirklichkeit eine nomadisierende Schmarotzerin war, verlassen und mit seiner Kreditkarte gleich noch sein Konto geplündert.

Weil er schon immer geplant hatte, einmal einen Roman zu schreiben, nutzt er jetzt die unfreiwillige Freizeit, um genau das zu tun. Und er tut das nach einigen stümperhaften eigenhändigen Versuchen mit Hilfe von KI-Programmen, mit ChatGPT und neuroflash. Die angeblich mit Hilfe von KI entstandenen Passagen sind im Buch übrigens kursiv gesetzt. Wobei natürlich die Frage ist: Kann man das dem Autor abnehmen? Oder führt er uns mit diesem Hinweis schon auf den ersten Seiten des Buchs hinters Licht?

Am Ende der Arbeit (mit) der KI steht ein herzzerreißendes Buch über ein afghanisches Flüchtlingsmädchen, angeblich von diesem selbst verfasst, das reine Fiktion ist, aber dem Publikum als "Geschichte eines wahren Schicksals" verkauft wird. Da wird kein Klischee ausgelassen: Kopftuchzwang und Prügel durch den Vater, Zwangsverheiratung mit einem alten Knacker in der Heimat, Vergewaltigung in der Ehe, ein Säureanschlag auf das Mädchen … Was Afghanen nach landläufiger Meinung halt so machen mit ihren Frauen und Töchtern.

Das Publikum frisst die Geschichte begierig, denn sie bestätigt alle seine Erwartungen und Vorurteile – so wie seinerzeit die „Reportagen“ des Herrn Relotius im SPIEGEL.

Um es kurz zu machen: Das Buch wird ein Bestseller und die erfundene anonyme Autorin wird so sehr gehypt, dass Denis Scheck, der Großsiegelbewahrer der deutschen Literaturkritik, sie unbedingt live in seiner Sendung „Druckfrisch“ haben will.

Jetzt hat der erfolgreiche Ghostwriter auf einmal zwei Probleme: Wo für das Interview mit Denis Scheck eine Autorin hernehmen, die gar nicht existiert? Und: Wie die wieder aufgetauchte Ex, die hinter sein Geheimnis gekommen ist und ihn damit erpresst, ruhigstellen?

Der Roman lebt ganz wesentlich von satirisch überzeichneten Charakteren: Wohnungsnachbarn des Protagonisten, die ganz dem Klischee von woken Gutmenschen entsprechen; ein eitler Literaturkritiker; ein reicher und gutgläubiger Philanthrop, der die „Recherchereisen“ des Autors für das Buch finanziert; ein Protagonist, der sich vom lebensuntauglichen, prekär lebenden Geisteswissenschaftler zu einem regelrechten Pragmatiker entwickelt, der mit Unterstützung der KI seine beiden Probleme am Ende ebenso souverän wie überraschend löst.

Eine tolle Satire auf den Literaturbetrieb, eine unterhaltsame Beschäftigung mit dem Thema KI bei der Erstellung fiktiver Texte samt der möglichen Folgen für die Schriftsteller und die Literatur und nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit dem zunehmenden Verschwimmen von Fiktion und Wirklichkeit in der heutigen Zeit.

 

Michael Steffel

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